An dem Tag, an dem mein Schwiegervater 90 Jahre alt wurde, habe ich mich mit ihm über den Tod unterhalten. Er sagte mir: „Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich habe Angst vor dem Sterben.“ Er wusste nicht, was ihn erwartet, wenn der Tag einmal gekommen sein würde. Ja, Sterben kann Angst machen. Loslassen müssen, in einen Raum eintreten, der dunkel zu sein anmutet. Die Kontrolle abgeben, sich hingeben. Nicht umsonst wird der Tod mit dem Schlaf verglichen. An jedem Abend, wenn wir einschlafen, erleben wir einen ähnlichen Prozess. Es kommt der Punkt, an dem die Müdigkeit stärker ist als der Wunsch, wach zu sein.

Nun ist mein Schwiegervater gestorben. Vor vier Tagen war es so weit. Er hat gerade noch seinen 93. Geburtstag erreicht und kurz danach hat er sich auf den Weg gemacht.  Er hatte keine Angst mehr. Es kam der Punkt, da war ihm die Kraft ausgegangen und seine Lebens-Müdigkeit war stärker als der Wunsch, weiterhin am Leben Anteil nehmen zu wollen. Er ist friedlich vom Leben in den Tod hinübergeglitten. Aus der Geborgenheit der Familie heraus in die Geborgenheit des Todes hinein. Der Tod kann freundlich kommen. Wie der Schlaf sich am Ende eines langen Tages gnädig über einen Menschen legt, so kann es der Tod am Ende eines langen Lebens tun.

„Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich habe Angst vor dem Sterben.“ Wie geht es dir damit? Hast du über diese Frage mal nachgedacht? Denn schließlich wissen wir nicht, was uns erwartet, wenn der Tod uns besucht. Ich für meinen Teil habe das tiefe Vertrauen, irgendwann den Tod ebenso sehnlichst zu erwarten wie an jedem Abend meinen Schlaf. Und nein, das hängt nicht am Alter. Auch jüngere Sterbende können den Tod erwarten. Vielleicht fällt es leichter, wenn du alt und lebenssatt bist. Aber nicht immer.

Die Art deines Sterbens hat viel mit deinem Leben zu tun. Mit Vertrauen, mit Hingabe, mit dem Gefühl von Geborgenheit. Oder eben dem Fehlen davon. Wer sich in sich selbst geborgen fühlt und im Leben zu Hause, geht leichter von dieser Welt.

Hast du selber Erfahrungen gemacht, die dazu passen?

Ich wünsche dir von Herzen eine von Geborgenheit getragene Woche von Mittwoch zu Mittwoch,

deine Katharina

P.S. Ich habe in dieser Mail den Tod mit dem Schlaf verglichen. Und es gibt Ähnlichkeiten zwischen beiden, unbedingt. Aber bitte sage niemals zu einem Kind: „Der Opa ist eingeschlafen“, wenn er doch gestorben ist. Schlaf und Tod sind so unterschiedlich, dass ein Kind den Unterschied anhand deiner Wortwahl lernt. Viele Kinder haben große Angst vor dem Einschlafen bekommen, weil sie es mit Erwachsenen zu tun hatten, die sich nicht trauten, den Tod mit dem Wort zu benennen, das es dafür gibt. Tod ist Tod und eben kein Schlaf. Und wer gestorben ist, schläft nicht, sondern wacht nie wieder auf. Die Endgültigkeit, die darin steckt, können Kinder begreifen und müssen sie begreifen. Vom wem sollen sie es lernen, wenn nicht von uns?

Zitat der Woche: „Du bist nicht mehr dort, wo du warst, aber du bist überall, wo wir sind.“ (Victor Hugo)