Vortrag anlässlich der Gedenkfeier zum Totensonntag am 24. November 2019 im Bestattungsinstitut Koop in Bremerhaven

Liebe Gäste dieser Gedenkfeier,

der November ist ein Monat, vor dem viele sich fürchten. Der goldene Oktober ist vorbei. Das bunte Farbenmeer aus Gelb-, Orange- und Brauntönen, angestrahlt vom warmen Licht der Herbstsonne, ist einem steten Nebelgrau gewichen, in dem die Bäume wie kahle Gerippe in die Luft ragen. Regen fällt vom Himmel. Wind fegt durch die Straßen und wirbelt die letzten Blätter zu klumpigen Haufen zusammen. Alles hastet mit tief in die Stirn gezogenen Kapuzen draußen herum. Kein Schwätzchen vor der Tür. Keinen Kaffee in der Sonne. So oft es geht, ziehen sich die Menschen in ihre Häuser zurück. Und sind dort, im schlimmsten Fall, allein.

Der November ist ein Monat, vor dem sich deshalb so viele fürchten, weil er uns mehr als jeder andere Monat vor Augen führt, dass Abschied zu unserem Leben dazugehört. Das Jahr verabschiedet sich von seinen hellen Seiten. Die Natur verabschiedet sich von ihren Farben. Menschen verabschieden sich von ihren verstorbenen Liebsten oder erinnern sich ganz besonders daran, dass sie irgendwann einmal bei ihnen waren und es jetzt nicht mehr sind. Es ist kein Zufall, dass in den November unsere Totengedenktage fallen, der Volkstrauertag und der Totensonntag. Trübes Wetter, fehlendes Licht und die allgemein gedämpfte Stimmung passen sehr gut dazu.

Abschied. Bei einem Spaziergang durch den Wald können wir sehen, wie er sich vollzieht. Gerade jetzt. Die Blätter, die sich frisch vom Baum gelöst haben, bilden eine dicke Schicht auf dem Waldboden. Wir laufen darauf herum. Die Kinder wühlen mit ihren Füßen, die in Gummistiefeln stecken, die nassen Laubhaufen auf, die sich gebildet haben. Im nächsten Jahr schon gehen wir auf den gleichen Blättern spazieren, die sich ein gutes Stück zersetzt haben und mit der Zeit ein Teil des Waldbodens werden, aus dem im Frühjahr das frische Grün sprießt. Die Bäume, die der Sturm umgefegt hat, liegen im Unterholz, werden von Moos überwachsen und dienen zahllosen Kleintieren als Unterschlupf. Sie leben nicht mehr, diese Bäume, aber sie haben ihre gute Funktion im ewigen Kreislauf der Natur.

Im Wald, da kommt uns alles so natürlich vor, die Veränderung, der Abschied. Wir erleben es mit und begrüßen es in gewisser Weise. Denn schließlich haben wir es in unserem eigenen Leben vielfach miterlebt, dass der November zwar ein trüber Monat ist, aber dass auch er sich dem Kreislauf der Jahreszeiten nicht entziehen kann und nach 30 Tagen Existenz unweigerlich dem Dezember das Feld überlassen muss. Nichts in diesem Leben währt ewig.

Alles Leben in der Natur stirbt. Pflanzen und Tiere sterben. Alles menschliche Leben stirbt. Wenn nichts und niemand sterben würde, könnte auch nichts geboren werden. Die Erde wäre übervölkert, die Natur würde kollabieren. Es ist gut eingerichtet, dass Altes dem Neuen Platz macht. Früher machte man in den Familien oft die Erfahrung, dass ein Familienmitglied starb und ein anderes geboren wurde. „Einer kommt, einer geht“, sagte man. Es ist gut und richtig so und folgt einer ewigen Ordnung, der wir alle unterworfen sind.

So weit die Theorie. Natürlich wissen wir das und können es mit klarem Verstand nachvollziehen. Aber von dem Abschied zu wissen und zu verstehen, dass er auch uns und unsere Liebsten irgendwann treffen wird, weil der Tod zum Leben dazugehört, ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Sind wir deswegen auch bereit zum Abschied?

Neulich war ich auf einer Lesung in einem Hospiz in Jever. Dort erzählte einer der Ehrenamtlichen in der Hospizarbeit, er mache sich über eine Sache Gedanken: Wenn in unserem Land eine Frau schwanger sei, dann würden sich alle vorbereiten. Das Kinderzimmer werde renoviert und eingerichtet. Eine Wiege werde gekauft, ein Wickeltisch, ein Kinderwagen und die Erstlingsausstattung. Ein Geburtsvorbereitungskurs werde besucht. Das neue Leben werde freudig begrüßt. Am Lebensende aber würden sich die wenigsten vorbereiten. Dabei sei der Tod eine ebenso natürliche Sache, die zu unserem Leben dazugehöre, wie die Geburt. Er für seinen Teil wolle dazu beitragen, dass sich das ändere, dass die Menschen damit begännen, sich auf den Tod vorzubereiten und ihn ebenso zu begrüßen wie die Geburt. Bereit zum Abschied. Wann sind wir bereit zum Abschied?

Sind wir jemals bereit zum Abschied? Kann man das überhaupt sein? Ist es möglich, sich aus eigenem Entschluss und leichten Herzens von Menschen, Umständen, Situationen zu verabschieden?

Ja, das ist möglich, wenn der Entschluss dafür in einem selber reift. Selbst gewählte Abschiede sind sehr viel leichter zu vollziehen als Abschiede, zu denen wir gezwungen werden. Wahrscheinlich kennt jede und jeder von Ihnen ein Ehepaar, das sich hat scheiden lassen, bei dem die Situation des Zusammenlebens so unerträglich geworden war, dass einer von beiden entschieden hat, sich zu trennen, zu gehen, weil der Schmerz des Abschieds und des Scheiterns nichts war gegenüber den Zuständen vor der Trennung. Wahrscheinlich kennt auch jede und jeder von Ihnen jemanden, der seine Arbeitsstelle gewechselt hat, weil die Arbeitsatmosphäre, die Kolleginnen und Kollegen oder was auch immer nicht passten.

Es gibt eine Bereitschaft zum Abschied, wenn ich selber mich innerlich an den Punkt bewege, dass es besser ist, sich zu verabschieden, als in der Situation zu verbleiben. Aber die Entscheidung liegt bei mir. Ebenso gibt es am Lebensende eine Bereitschaft zum Abschied. Auf der Seite der Sterbenden. Jeder Sterbende kommt irgendwann an den Punkt, an dem er bereit ist zu gehen. Wenn er nicht dorthin kommt, stirbt er nicht. Ganz am Schluss, und sei der Moment noch so kurz, willigt der Sterbende ein, lässt sich vom Tod umarmen und sagt, stumm oder laut: „Ja, nimm mich mit.“ Bereit zum Abschied.

Bereit zum Abschied zu sein, bedeutet immer, dass im eigenen Erleben die Angst vor dem Neuen geringer ist als das Hadern mit der aktuellen Situation. Als meine Mutter im Alter von 80 Jahren starb, war sie körperlich sehr krank, aber geistig total klar. Sie ist sehr bewusst auf ihren Tod zugegangen, hat ihn quasi mit gestaltet. Hat den Ärzten gesagt, sie wolle nicht mehr punktiert werden, weil das Wasser in der Lunge ohnehin immer nachlaufe. Hat darauf gewartet, bis sie alle Kinder, Schwiegerkinder und Enkelkinder noch einmal gesehen hatte, hat jedem ihrer Enkelkinder einen ganz besonderen Satz mit auf den Weg gegeben. Unsere jüngste Tochter war damals acht Jahre alt. Und sie sagte zu meiner Mutter: „Oma, ich will 100 Jahre alt werden, aber ich will dabei fit sein.“ Daraufhin hat meine Mutter gesagt: „Ja, Miriam, das würde ich auch gerne, aber mein Körper schafft das nicht mehr.“ Das war am letzten Lebenstag meiner Mutter. Sie ist in einer gesundheitlich sehr angefochtenen Situation gestorben. Aber sie hatte Frieden damit geschlossen. Sie war bereit zum Abschied. Der Tod war für sie eine bessere Alternative als weiterzuleben.

Ähnliches gilt im Übrigen auch für den Freitod. Wer sich selbst das Leben nimmt, für den ist der Tod von allen schlechten Möglichkeiten, die sich ihm bieten, noch die beste. Aus ganz subjektiver Sicht.

Bereit für den Abschied ist, wer sich selbst für den Abschied entscheidet. Der Ehepartner, der sich trennt. Die Angestellte, die den Betrieb verlässt. Der liebste Mensch, der stirbt. Nicht bereit zum Abschied sind diejenigen, die davon betroffen sind. Die Ehepartnerin, die alleinerziehend mit den Kindern zurückbleibt. Der Chef, der nun nicht weiß, wie die Arbeit erledigt werden soll. Die Angehörigen, die um die verstorbene Person trauern. Sie müssen erst in die neue Situation hineinwachsen und in sich selbst die Bereitschaft entdecken, mit dem Abschied umgehen zu wollen.

Menschen verändern sich nicht freiwillig. Wenn alles gut läuft, warum sollte man dann etwas ändern? Menschen verändern sich, wenn sie es müssen, wenn ihr Leben sie dazu zwingt, etwas anderes machen oder entscheiden zu müssen. Das gilt übrigens für das Lebensende ebenso. Die wenigsten Menschen sterben freiwillig. Ein Mensch stirbt, weil er zu krank, zu alt oder zu perspektivlos ist, um weiterleben zu können oder zu wollen. Bereit zum Abschied sein. Das muss nicht heißen, dass es von Anfang an so war.

Ausnahmslos jedem Menschen kann es in jeder Situation gelingen, die Bereitschaft zum Abschied zu entwickeln, sofern er es will. Dieses „sofern er es will“ ist der Schlüssel dafür. Einen Abschied zu bewältigen gelingt um so besser, je höher die Fähigkeit ist, ihn zu akzeptieren. An Altem festzuhalten, obwohl es nicht mehr festzuhalten ist, führt dazu, dass man selber steckenbleibt in diesem Alten, weil man nicht wirklich bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen.

Ich habe vor einigen Jahren mal eine Studie der Technikerkrankenkasse gelesen, die hatte zum Ergebnis, dass 60 % aller Depressionen auf unverarbeitete Trauer zurückzuführen sind. 60 %, das sind fast zwei Drittel aller Menschen, die an Depressionen erkranken. Wenn die Trauer beim Abschied von einem lieben Menschen kein Ventil bekommt, wenn nicht geweint wird, nicht darüber gesprochen wird, sie nicht gelebt wird, dann bleibt sie im Innern stecken und richtet Schaden an. Die Folge sind seelische oder körperliche Erkrankungen. Entweder räumt man der Trauer ihr Lebensrecht ein und lebt sie über das Ventil, das zu einem passt, oder sie sucht sich über eine Krankheit ihr eigenes Ventil.

Wir selbst sind der Schlüssel zum Erfolg. Wenn wir bereit sind zum Abschied, wenn wir entscheiden, zwar unendlich traurig zu sein, aber überleben zu wollen, dann können wir das Alte hinter uns lassen, die Trauer bewältigen und Neues wagen.

Natürlich bedeutet Neuanfang immer Ungewissheit. Sorgen und Angst vor der Zukunft sind damit verbunden. Wie wird es werden, dieses Leben?

Bereit zum Abschied, bereit zum Neuanfang. Beides hängt miteinander zusammen. Denn bereit zum Neuanfang kann nur sein, wer vorher die Bereitschaft entwickelt hat, den Abschied, auch wenn er ihn sich nicht freiwillig ausgesucht hat, zu akzeptieren und sich aus eigener Entscheidung dem Neuen zuzuwenden.

Viele wissen gar nicht, wie mächtig sie sind. Sie können sich entscheiden dafür, den unabwendbaren Verlust zu akzeptieren, auch wenn sie es niemals wollten. Sie können sich dafür entscheiden, ihre Trauer auf gesunde Weise zu leben und auszuleben und sich gegebenenfalls Hilfe zu holen, wenn das alleine nicht gelingt. Sie können sich dafür entscheiden, ihrer gesunden Seele und ihrem gesunden Körper den Vorrang zu geben vor einer wie auch immer gearteten Erkrankung. Sie können sich für das Leben entscheiden, das nach dem Tod weitergeht. Denn wenn sie daran Anteil nehmen wollen, ist es da. Zu jeder Zeit an jedem Ort. Ja zum Abschied, Ja zum Neubeginn.

Der November ist ein Monat, vor dem sich deshalb so viele fürchten, weil er uns mehr als jeder andere Monat vor Augen führt, dass Abschied zu unserem Leben dazugehört. Jetzt müssen wir uns nicht mehr fürchten. Denn wir wissen, ja, es gibt den November, aber wir entscheiden uns dafür, ihn als Teil unseres Lebens zu sehen und zu begreifen. Und damit beides, Abschied und Neubeginn, in unser Leben hineinzulassen.