Geschrieben anlässlich des Podcast-Interviews mit Dr. Nicole Hänse, 19.06.2022

Was ist Verlust beziehungsweise was bedeutet der plötzliche Verlust einer Person oder der Gesundheit?

Das Wort Verlust kommt von verlieren: etwas geht verloren, sei es ein Schlüssel oder ein Buch. Die grundsätzliche Erfahrung von Verlust kennt jeder Mensch. Wir alle verlieren mal etwas und finden es nicht wieder.

Aber es geht nicht nur Materielles verloren, auch Erinnerungen gehen verloren, Freundschaften, Beziehungen, und in dieses Feld des Immateriellen, was verloren geht, gehört auch der Verlust der Gesundheit, einer geliebten Person oder des eigenen Lebens.

Je höher die Bedeutung eines Gegenstandes oder eines Gutes für mich ist oder je stärker die Bindung an eine bestimmte Person ist, desto trauriger ist der Verlust.

Etwas geht verloren und hinterlässt eine Lücke, die – so das Gefühl bei den meisten – nicht gefüllt werden kann. Verlust bedeutet, dieses Gefühl aushalten zu müssen und nicht nach schnellen Lösungen dafür zu suchen, weil es keine schnellen Lösungen gibt. Es ist das Gefühl, das wir mit dem Wort Trauer meinen.

Warum ist es so sinnvoll, sich darüber – vor allem in unserem Beruf – Gedanken zu machen?

Ärztinnen und Ärzte sind Menschen wie du und dich und sie haben im beruflichen Umfeld zwei Realitäten: die fachliche und die private. Man kann diese beiden Realitäten nicht vollständig trennen, aber sie sind doch deutlich voneinander zu unterscheiden.

Das bedeutet: wenn ein Arzt oder eine Ärztin einer kranken Person sagen muss, dass sie nicht wieder gesund wird oder vielleicht sogar sterben muss, dann macht das etwas mit der Privatperson Arzt, Ärztin. Automatisch kommen private Erfahrungen zum Klingen, die der Arzt oder die Ärztin in ähnlichen Situationen gemacht hat.

Ich gebe mal zwei Beispiele:

  1. Wenn ich erlebt habe, dass mein Großvater an Krebs gestorben ist, obwohl er vier Wochen später bei meiner Hochzeit dabei sein wollte, dann denke ich im beruflichen Alltag sofort auch an diese Situation, wenn ein alter Mann, den ich betreue, stirbt, während seine Enkelin an seinem Bett sitzt.
  2. Oder wenn ich es erlebt habe, dass meine Mutter bei der Geburt meines jüngsten Geschwisterkindes starb, dann habe ich eine besondere Sensibilität für eine Situation, in der ich im Zusammenhang des Krankenhauses erlebe, dass eine gebärende Frau mir möglicherweise im Zuge der Geburt unter den Händen wegstirbt; sofort nämlich springen meine Emotionen an und die Situation des Verlustes, den ich als Kind verkraften musste, drängt sich in die Arbeitssituation hinein.

Wenn ich deshalb mit Fachpersonal in Altenheimen oder Krankenhäusern über das Thema Trauer im Beruf arbeite, dann beginne ich immer mit den eigenen Trauererfahrungen: Welche Erfahrungen haben die Fachkräfte mit Trauer im privaten Bereich? Was haben diese Erfahrungen bei ihnen ausgelöst? Was konnten sie verarbeiten? Was ist geblieben?

Die berufliche Realität der Ärztinnen und Ärzte ist: Sie lernen in ihrer Ausbildung, Leben zu retten, Leben zu erhalten und Gesundheit nach Möglichkeit wiederherzustellen – und das ist vermutlich auch ihr eigener Anspruch, eine der Motivationen, überhaupt den Beruf ergriffen zu haben.

Demgegenüber steht die Erfahrung Krankenhausrealität, die es mit sich bringt, dass Gesundheit auch mal nicht wiederherzustellen ist beziehungsweise das Leben nicht erhalten werden kann und Menschen sterben. Für einen Arzt, eine Ärztin bedeutet das ein Scheitern gegenüber dem eigenen medizinischen Anspruch. Es kommt ihm oder ihr vor wie ein fachliches Versagen, deswegen „darf“ es auch nicht sein. Nicht heilen zu können, ist nichts, was ein Arzt von seinem Selbstverständnis her in sein Selbstbild integrieren möchte. Es muss abgewehrt werden.

Es ist sinnvoll, sich dieser Spannung bewusst zu sein, also der Spannung zwischen dem ärztlichen Anspruch zu heilen und der Realität, dass das nicht immer funktionieren kann. Dazu kommen die privaten Erfahrungen. Beides muss unbedingt reflektiert werden, wenn die Ärztin oder der Arzt in den Themenbereichen Verlust und Trauer professionell und menschlich handeln will.

Was sind tagtägliche Probleme, wenn es um Trauer, Tod und Verlust geht?

Die Auseinandersetzung mit Verlust und Trauer braucht Zeit, und die ist im Klinikalltag selten gegeben. Oft müssen medizinische Entscheidungen schnell getroffen werden: muss eine Operation sein, um einen Menschen zu retten – ja oder nein? -, oder ist es nicht mehr sinnvoll, soll man die Operation sein lassen? Wann steht eine Operation oder andere medizinische Maßnahmen versus einer palliativen Versorgung? Wobei dabei die Erkenntnis bedeutsam wird: wir können nichts mehr tun – was aus den Gründen, die ich beschrieben habe, mit dem Gefühl von Versagen einhergehen kann.

Es gehört zum Beruf der Ärztinnen und Ärzte, dass sie zuweilen ihren Patientinnen und Patienten problematische Nachrichten überbringen müssen. Die zentrale Fähigkeit, die sie dafür brauchen, ist Einfühlsamkeit. Sie müssen sich in ihr Gegenüber hineinversetzen können. Wie fühlt sich Herr Müller, wie fühlt sich Frau Meier? Was passiert, wenn ich ausspreche: „Sie werden sterben.“ Es redet nicht Hauklotz mit Hauklotz, sondern Mensch mit Mensch. Leider habe ich es schon häufig erlebt, dass Hauklotz mit Mensch redet, was zu niederschmetternden Erfahrungen bei den Patientinnen und Patienten und auch bei deren Angehörigen führt.

Welche Gefühle stehen bei allen Beteiligten im Raum?

Vorweg: Menschen und Situationen sind unterschiedlich, deshalb gibt es verschiedene Gefühle, die eine Rolle spielen können!

Ärzte/Ärztinnen:

  • Unsicherheit, wie mit der Gemeingelage zwischen den eigenen Gefühlen und denen der Angehörigen und PatientInnen umzugehen ist
  • Überforderung, dem nicht gewachsen zu sein; was geschieht eigentlich, wenn etwas passiert, bei dem ich nicht weiß, was ich tun soll?
  • Mischung aus Ohnmacht und Wut, weil du nichts mehr tun kannst
  • Schuldgefühle: „Das ist nur passiert, weil ich etwas falsch gemacht habe.“ 
  • Trauer, weil eigene Erfahrungen mit dem Tod angesprochen werden, Trauer auch, weil sie vielleicht den Patienten, die Patientin liebgewonnen haben oder sympathisch finden, was aber ja eigentlich nicht sein soll

Angehörige:

  • Nicht-wahrhaben-wollen, Unfähigkeit oder Unwille zu akzeptieren, was geschieht
  • Angst vor Verlust, vor dem, was bevorsteht
  • teils Erleichterung, weil auch eine Last abfällt (eigene und fremde)
  • Hoffnung, dass sich das Blatt wider alle Vernunft noch einmal wenden möge (wie bei der Kerzenflamme, die aufbrennt, bevor sie erlischt; solche Situationen gibt es oft auch bei Sterbenden: die Situation bessert sich noch einmal deutlich, bevor es dann schnell zu Ende geht)

Patient:innen:

  • Angst vor dem Sterben (stärker als die Angst vor dem Tod)
  • Trauer über den bevorstehenden Verlust
  • Erleichterung, dass die Leidenszeit vorbei sein wird
  • Gefühl, etwas verpasst zu haben oder etwas nicht erledigt zu haben (es ist noch etwas offen)
  • Bedauern, dass etwas zu Ende geht

Wieso ist es so schwer, diese Gefühle auszuhalten?

Gefühle, die im Zusammenhang mit dem Sterben eine Rolle spielen, sind starke und elementare Gefühle. Niemand kann sagen: mich betrifft das nicht! Endlichkeit betrifft jede und jeden. Dieses Faktum stellt in der direkten Konfrontation mit dem Tod eine massive Bedrohung dar, weil damit das Ende des eigenen Lebens in den Blick gerät.

Die meisten von uns haben keine Übung im Umgang mit diesen starken Gefühlen. Tod ist immer noch ein Tabu-Thema, und wenn jemand nicht gerade beruflich mit dem Tod zu tun hat (Mitarbeiter:innen in Bestattungsinstituten, Pflegeheimen, Krankenhäuser oder auch Leute wie ich), dann besteht keine Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen. Wer aber beruflich damit zu tun hat, muss sich auseinandersetzen, muss sich dem Thema Endlichkeit stellen. Niemand muss das sofort können, aber wer mit Menschen am Ende ihres Lebens zu tun hat, muss das Thema durchdringen und durchfühlen, damit er/sie seine/ihre Arbeit professionell ausführen kann.

Wenn das nämlich nicht passiert, dann kommen solche schrecklichen Gespräche zustande im Sinne von Hauklotz spricht mit Mensch, bei denen Sterbenden zwischen Tür und Angel mit einem Satz vor den Kopf geknallt wird, dass sie keine Chance mehr haben. Das habe ich oft genug erzählt bekommen von Trauerfamilien, wie viel da schiefläuft: „Herr Müller, die Ergebnisse der Untersuchung haben erbracht, dass sie sterben werden. Maximal drei Monate bleiben ihnen noch. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“

Ich erwarte von einem guten Arzt, von einer guten Ärztin, dass sie sich vor dem Gespräch mit einem Patienten Gedanken darüber gemacht hat: Wenn ich jetzt so krank wäre, wie möchte ich dann angesprochen werden? Wie sollte ein Arzt, eine Ärztin mit mir reden?

Wer Arzt oder Ärztin ist, braucht Empathie, Empathie, Empathie, ansonsten sind Gespräche mit Angehörigen oder Patient:innen nicht mehr als das lästige Abarbeiten einer Pflicht, die sich nicht selten in dem Verschanzen hinter medizinischen Gegebenheiten äußert.

Was können wir als Ärzt:innen machen, wenn wir die Reaktion auf eine schlechte Nachricht erleben, die wir soeben überbracht haben? Häufig ist man in diesem Moment unvorbereitet, man fühlt selbst, wie es einem den Boden unter den Füßen wegzieht, man ist vor allem eines: unsicher.

Du kannst als Ärztin, als Arzt nichts anderes tun, als da zu sein, die Situation und die Gefühle auszuhalten, die in dem Moment hochkommen – deine eigenen und die der Betroffenen. Das Beste ist, den Menschen zu signalisieren, dass ihre Reaktion in Ordnung ist, wie auch immer sie ausfallen mag.

Oft gibt es nichts zu sagen, es gibt keinen Trost, schon gar keinen schnellen Trost. Statt zu versuchen Trost zu spenden, ist es hilfreicher auszusprechen, was in dem Moment gerade geschieht: „Ich merke, dass dieses Thema für Sie bisher nicht im Raum stand und sie deshalb jetzt völlig geschockt sind.“ Zeit geben!!!! Unsicherheit ausdrücken („Ich muss gestehen, ich weiß selbst nicht, was ich sagen soll! Als Ihr Vater vor drei Tagen ins Krankenhaus kam, war ich der festen Überzeugung, wir könnten ihn am Montag wieder entlassen.“) oder sich im Notfall Hilfe holen durch erfahrene Kolleginnen und Kollegen.

So ein Gespräch darf auf keinen Fall zwischen Tür und Angel stattfinden, sondern erst dann, wenn wirklich Zeit dafür ist.

Wie können wir uns verhalten? Gibt es ein Richtig oder Falsch?

Ja, es gibt ein Richtig und ein Falsch!

  • Falsch ist, der Situation auszuweichen.
  • Falsch ist, völlig unvorbereitet in so ein Gespräch zu gehen.
  • Falsch ist, sich noch nie mit dem Thema beschäftigt zu haben
  • Falsch ist zu glauben, man müsste alles im Griff haben oder alles steuern können.
  • Richtig ist, sich selbst als Mensch zu fühlen und als Mensch zu verhalten.
  • Richtig ist, sich zu fragen, wie würde ich so etwas gerne gesagt bekommen?
  • Richtig ist, die Situation mit auszuhalten und nicht zu versuchen, das Schwere leicht zu machen.
  • Richtig ist, auf sein eigenes Herz zu hören und gleichzeitig bei den Angehörigen zu sein.
  • Richtig ist, bei sich zu bleiben, in der Rolle als Arzt oder Ärztin und gleichzeitig als Mensch.
  • Richtig ist, einfühlsam zu sein, aber nicht die Gefühle des Gegenübers zu den eigenen zu machen. Du brauchst professionelle Distanz bei gleichzeitiger Empathie. Es ist nicht dein eigenes Sterben.

Wie können wir Patient:innen begleiten und vielleicht auch unterstützen, wenn es um die Angst vor dem Sterben geht?

Die meisten Patient:innen haben mehr Angst vor dem Sterben als vor dem Tod. Deshalb ist es hilfreich, mit ihnen zu sprechen und ihnen zu erklären, was passiert, was sie erwartet und was genau die Ärzt:innen aus medizinischer Sicht tun können, um ihnen das Sterben zu erleichtern. Angst entsteht vor etwas Unbekanntem. Was du kennst, davor hast du keine Angst. Wenn du also einem Patienten / einer Patientin das Sterben erklärst, dann nimmst du ihm/ihr die Angst.

Und ein weiterer Aspekt: Die sterbende Person will weiterhin als Mensch gesehen und ernstgenommen werden. Es ist wichtig, sie zu fragen, was sie selber denkt, was ihr helfen würde, was ihr guttäte.

Was können wir als Ärzt:innen für uns selbst machen, wenn wir in Trauer sind oder Verlust auf der Arbeit erlebt haben?

Erleidest du als Arzt/Ärztin im Privaten einen schweren Verlust, gilt für dich dasselbe wie für alle anderen auch, die in Trauer sind. Schau, ob du arbeitsfähig bist oder Zeit für dich brauchst. Falls du arbeiten solltest, könnte es sinnvoll sein, eventuell den beruflichen Trauersituationen so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen und ruhig offen zu kommunizieren: „Ich kann das im Moment nicht, wer von euch kann das für mich übernehmen?“ Es braucht auch für Profis in der Arbeitssituation die Möglichkeit, für eine gewisse Zeit geschont zu werden.

Erlebst du das Thema Verlust bei der Arbeit, dann können Instrumente wie Supervision oder kollegialer Austausch hilfreich sein. Auf jeden Fall ist es wichtig, Räume zu schaffen, um darüber zu reden. Wie in allen sozialen Berufen ist es auch im Arztberuf unabdingbar, gut für sich selbst zu sorgen.

Wie können wir Kolleg:innen unterstützen, die eine schwere Situation miterlebt haben?

Das Beste ist zu schauen: was braucht diese Person im Moment? Du kannst ein Gespräch anbieten, du kannst Entlastung anbieten. Du kannst fragen: „Was hilft dir jetzt am meisten? Soll ich dich in Ruhe lassen? Darf ich dir einen Tee bringen? Willst du reden?“

Wichtig ist, nicht ungefragt etwas zu tun, was mehr Ausdruck deiner eigenen Hilflosigkeit ist als echte Hilfe. Drücke ruhig deine eigene Unsicherheit aus: „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!“, „Ich bin unsicher, ob ich dir eine Hilfe sein kann.“ Reagiere authentisch! Das kannst du am besten, wenn du für dich realisiert hast, dass der Tod und die damit zusammenhängende Trauer zwar schwer ist, aber jede und jeden von uns treffen wird, insofern also normal ist, eine ganz normale Reaktion auf einen schweren Verlust.

Und hier findet ihr die Links zum Thema auf den diversen Plattformen von Dr. Nicole Hänse:

Podcast bei Spotify: https://open.spotify.com/episode/37maVzvvqU4RDBaYvvc9Zj?si=CpyyEEbXSx2_HCnxMf83hg

Apple Podcast: https://podcasts.apple.com/de/podcast/arztsein/id1512232158?i=1000567002343

Blogartikel: https://arztsein.com/blog/interviews/interview-umgang-mit-trauer/

Website: https://arztsein.com