Wenn ich Menschen danach befrage, wie sie gerne sterben möchten, dann bekomme ich in der Regel eine von zwei Antworten: „Ich möchte von jetzt auf gleich tot umfallen.“ Oder: „Ich will mich abends ins Bett legen, einschlafen und morgens nicht wieder aufwachen.“

Diese Wünsche entsprechen dem Bedürfnis, das Leben zu haben und den Tod zu nehmen, aber das Sterben zu übergehen. Bevor mein Schwiegervater im Alter von 93 Jahren starb, sagte er zu mir: „Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich habe Angst vor dem Sterben.“ Seine Augen hatten sehr viel mehr schon gesehen als ich. Er wusste, wovon er sprach. Wir können uns die Art des Sterbens nicht aussuchen und auch nicht Tag und Stunde, wann es so weit sein wird.

Aber der Wunsch bleibt, dass es möglichst schnell und möglichst unbemerkt vonstatten gehen möge.

Am vergangenen Freitag habe ich eine Trauerrede über einen Mann gehalten, der im Alter von 82 Jahren so einen schnellen Tod gestorben ist. Er war am selben Abend noch auf der Weihnachtsfeier des Spielmannszuges seines Dorfes gewesen. Er hatte jede Menge Leute gesehen und hatte sehr viel Spaß. Es wurde erzählt und gelacht bis tief in die Nacht hinein. Und auf dem Rückweg ist er dann vor der Tür seines Hauses zusammengebrochen und war tot. Und das im Dezember. Und das kurz vor Weihnachten.

Für ihn war das ein schöner Tod, für seine Familie war es hart.

Wir wünschen uns alle einen schnellen, gnädigen Tod. Aber wir wissen alle nicht, wann wir sterben werden und ob es so kommt, wie wir es am liebsten hätten. Wünschen dürfen wir trotzdem.

Erich Kästner hat diese Frage in seinem Dezember-Gedicht aufgegriffen.

Dezember

Das Jahr ward alt. Hat dünnes Haar.
Ist gar nicht sehr gesund.
Kennt seinen letzten Tag, das Jahr.
Kennt gar die letzte Stund.

Ist viel geschehn. Ward viel versäumt.
Ruht beides unterm Schnee.
Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt.
Und Wehmut tut halt weh.

Noch wächst der Mond. Noch schmilzt er hin.
Nichts bleibt. Und nichts vergeht.
Ist alles Wahn. Hat alles Sinn.
Nützt nichts, dass man’s versteht.

Und wieder stapft der Nikolaus
durch jeden Kindertraum.
Und wieder blüht in jedem Haus
der goldengrüne Baum.

Warst auch ein Kind. Hast selbst gefühlt,
wie hold Christbäume blühn.
Hast nun den Weihnachtsmann gespielt
und glaubst nicht mehr an ihn.

Bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag.
Dann dröhnt das Erz und spricht:
„Das Jahr kennt seinen letzten Tag,
und du kennst deinen nicht.“

Erich Kästner

Mit dieser Ungewissheit, den letzten Tag und die letzte Stunde nicht zu kennen, müssen wir leben lernen. Auch in der Weihnachtswoche, auch im Blick auf den Jahreswechsel. In jedem Moment, den uns das Leben schenkt.

Ich wünsche dir von Herzen eine weihnachtsfrohe Woche von Mittwoch zu Mittwoch,

deine Katharina

Zitat der Woche: „Alles ist nur Übergang. / Merke wohl die ernsten Worte: / Von der Stunde, von dem Orte / Treibt dich eingepflanzter Drang. / Tod ist Leben, Sterben, Pforte. / Alles ist nur Übergang.“ (alte Brückeninschrift in Wien)

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