Das Thema Schuld spielt im Zusammenhang mit Trauerfällen eine ziemlich große Rolle. Viele Angehörige machen sich Vorwürfe. Sie denken, wenn sie nur dieses oder jenes bemerkt hätten, wenn sie bloß das ein oder andere getan hätten, wenn sie noch mehr geleistet, sich stärker verausgabt oder besser aufgepasst hätten, dann… ja dann wäre der geliebte Mensch vielleicht noch am Leben.
Sie geben sich selbst die Schuld daran, dass das Leben einer Person, die sie liebten, nicht zu retten war.
Ich kenne Leute, die in einem Pflegeberuf arbeiten und sich vorwerfen, die Krankheit ihres Partners oder ihrer Partnerin nicht früher erkannt zu haben. Wo doch die Symptome so eindeutig waren und sie es eigentlich besser hätten wissen müssen. Aber das ist leichter gesagt als getan, denn du kannst nicht sehen, was der Verstand einfach nicht in der Lage ist zu begreifen. Die Vorstellung, ein von dir geliebter Mensch könne an einer schweren Krankheit leiden, ist so unfassbar bedrohlich, dass der bloße Gedanke daran verdrängt wird.
Das ist alles menschlich. Wir sind menschlich. Und wie gut, dass wir das sind! Was wäre das Leben ohne Menschlichkeit? Du brauchst kein Übermensch zu sein, um wertvoll zu sein und von Schuld befreit.
Ich führte ein Trauergespräch mit einer alten Dame von Mitte 80 Jahren, deren Tochter gestorben war. Die alte Mutter litt darunter, dass ihre Tochter sich nicht an die ärztlichen Empfehlungen gehalten hatte und auch nicht auf ihre Mutter hatte hören wollen. Die Mutter machte sich Vorwürfe, ob sie nicht stärker darauf hätte pochen sollen, dass ihre Tochter Veränderungen in ihrem Leben herbeiführte (nicht mehr rauchen, eine Ernährungsumstellung einleiten). Sie war von Schuldgefühlen geplagt, weil sie als Mutter dachte, sie hätte doch ihre Tochter retten müssen.
Ich sprach mit der alten Frau über Verantwortung. Wer erwachsen ist, muss Verantwortung für sein Leben übernehmen, das gehört zum Erwachsensein dazu. Ihre Tochter war erwachsen. Sie war 60 Jahre alt und selbst verantwortlich für das, was sie tat und auch für das, was sie unterließ. Ihre Mutter konnte die Entscheidungen, die möglicherweise hätten getroffen werden müssen, nicht stellvertretend für ihre Tochter treffen.
Es war nicht die Schuld der Mutter, dass es zu dem Tod gekommen ist. Aber die Mutter war es, die die Schuldgefühle hatte.
Unter den Schuldgefühlen aber wohnte noch etwas anderes. Und das war Wut. Ich brachte das Thema zur Sprache, indem ich zu der alten Dame sagte: „Wie gut, dass Sie Ihre Wut haben!“ Sie guckte mich ganz verdutzt an. Ich wiederholte mich: „Wie gut, dass Sie Ihre Wut haben!“ Und dann erklärte ich ihr, dass ihre Wut – die ich sehr genau spürte – ihr dabei helfe, sich von ihrer Tochter abzugrenzen, sie und sich selbst zu unterscheiden. Nicht mehr einfach nur ungeteilte Mutterliebe, Verantwortung und Schuld zu spüren, sondern auch die Wut darüber, dass die Tochter ihr Leben so achtlos weggeworfen hat. Das Leben, das die Mutter jahrzehntelang sorgsam behütet und beschützt hatte.
Hinter Schuldgefühlen stecken oft andere Gefühle, die die meisten sich nicht so gerne eingestehen. Wut ist eines davon oder auch Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die frustrierende Erfahrung, an dem Tod, der eingetreten ist, nichts mehr ändern zu können.
Wenn dich angesichts des Sterbens eines geliebten Menschen Schuldgefühle plagen, dann wisse: Dieser Tod ist nicht deine Schuld! Vielleicht hättest du an irgendeiner Stelle etwas anders machen können. Aber dein Tun oder Unterlassen hätte mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nichts an diesem Tod geändert. Und selbst wenn. Du bist ein Mensch. Du bist menschlich und fehlbar.
Vergib dir, was gewesen ist! Das Gefühl von Schuld kann nur heilen unter dem Segen der Vergebung.
Ich wünsche dir von Herzen eine dir selbst vergebende Woche von Mittwoch zu Mittwoch,
deine Katharina
Zitat der Woche: „Diejenigen, die gehen, fühlen nicht den Schmerz des Abschieds. Der Zurückbleibende leidet.“ (Henry Wadsford Longfellow)